„Dauernd überfüllt“

Das Nürtinger Amtsgerichtsgefängnis in den Kriegsjahren

Das Nürtinger Amtsgerichtsgefängnis (Bildmitte), das 1967 abgerissen wurde, Foto von 1953, Vorlage StANT Nr. 1692 A
Das Nürtinger Amtsgerichtsgefängnis (Bildmitte), das 1967 abgerissen wurde, Foto von 1953, Vorlage StANT Nr. 1692 A

Im Nürtinger Amtsgerichtsgefängnis in der Mädchenschul-, Ecke Schlossgartenstraße, befanden sich im ersten und zweiten Obergeschoss insgesamt 14 Zellen. Im Erdgeschoss wohnte Gefängniswachtmeister Josef Küchle mit seiner Familie. Für die Verpflegung und Beaufsichtigung der Gefangenen war der Landrat zuständig, (1) das Essen wurde von Küchle’s Frau E. (2) zubereitet, aber vermutlich auch aus einem Gasthaus angeliefert. (1)  Die meisten Häftlinge berichteten nach Kriegsende über die schlechte Verpflegung während ihrer Haft in der Kriegszeit, sie soll mangelhaft und unzureichend gewesen sein. (6) 

Besuche von den nächsten Angehörigen, die eine schriftliche Besuchserlaubnis nachweisen mussten, waren nur montags von 8 bis 11.30 Uhr erlaubt. Es durfte jeweils nur ein Besucher kommen, „keine Kinder, Personen des anderen Geschlechts, die in keinem Angehörigenverhältnis stehen.“ Untersuchungsgefangene konnten sich alle vier Wochen auf Besuch freuen, Strafgefangene durften alle zwei Monate besucht werden. (1)


Die Häftlingszellen waren „dauernd überfüllt. Die Unterbringung bereitet in letzter Zeit deshalb erhebliche Schwierigkeiten“, schrieb der Nürtinger Regierungs-Oberinspektor Hoffmann im Herbst 1944 an den Württ. Innenminister nach Stuttgart. (1) Die ursprüngliche Belegungsgrenze des Gefängnisses betrug 15 Gefangene, jetzt sollten sich hier nicht mehr als 25 Häftlinge gleichzeitig aufhalten. Waren es im Juli 1944 noch durchschnittlich 10 Gefangene, die hier einsaßen, mussten sich im Oktober 1944 23 Gefangene und im Februar 1945 etwa 27 Gefangene die 14 Zellen teilen. (4 Nr. 5) Zudem fehlte Bewachungspersonal, „besonders für die Außenarbeiten. Wenn die Voraussetzungen erfüllt wären, könnten die Häftlinge beim Stollenbau oder bei städtischen Arbeiten verwendet werden.“ (1)


Da das Kirchheimer Gefängnis im Jahr 1944 anderen Zwecken diente, mussten die Gefangenen des dortigen Amtsgerichts in Nürtingen aufgenommen werden. Zumeist handelte es sich dabei „um Festnahmen wegen Heimtücke, Arbeitsverweigerung und anderer Delikte, vor allem von Ausländern“, wie Hoffmann Anfang 1945 in einem Brief nach Stuttgart schrieb. Auch Gerichtsarzt Dr. Wiegand hatte festgestellt, dass dieses Gefängnis überbelegt ist und geäußert, „dass vom seuchenpolizeilichen Standpunkt aus schwere Bedenken erhoben werden müssen. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen seien wesentliche, auch in der heutigen Zeit noch zu stellende Forderungen an die Gefängnishygiene nicht durchführbar. Die Überfüllung der Zellen ist derart groß, dass besonders bei den an sich schon nicht zu großer Reinlichkeit neigenden Ausländern die Gefahr einer Krankheitsübertragung gegeben sei.“ (1)


Anfang 1945 wurden zum Beispiel „sämtliche vorhandenen 28 Gefangenen vom Gerichtsarzt auf Krätze untersucht“. Drei männliche Gefangene, die im Januar 1945 im Gefängnis einsaßen, waren an Krätze erkrankt. „Diese drei wurden in eine besondere Zelle gebracht und werden mit Salbe behandelt. Krätzefrei waren alle übrigen Gefangenen, darunter die für das Sondergericht Stuttgart bzw. das Amtsgericht Kirchheim/ Teck einsitzenden Gefangenen. Desinfektionsmaßnahmen sind getroffen.“ (4 Nr. 6)


Ein weiteres Problem brachte die Unterbringung der sogenannten Ausländer mit sich: Lt. Hoffmann konnten diese nicht mehr getrennt von den Deutschen untergebracht werden: „Ausgeschlossen ist, dass intellektuelle Gefangene in Einzelhaft genommen werden können, so dass sie ihren staatsfeindlichen Einfluss ausüben können, ohne dass dies verhindert werden kann.“ (1)


Unter Gefängniswachtmeister Josef Küchle (1898 in Bartholomä geboren (4 Nr. 34)) herrschte hier „ein schikanöses Regiment“. (3 S. 312) Küchle war, bevor er 1939 als Oberwachtmeister ans Amtsgericht Nürtingen kam, ab 1935 als Justiz-Wachtmeister und Gefängnisaufseher am Amtsgericht Blaubeuren tätig gewesen. Der NSDAP gehörte er von 1933 – 1945 an, allerdings „ohne Amt und Rang“. Er starb im Januar 1947 im Nürtinger Amtsgerichtsgefängnis, in dem er als Betroffener inhaftiert war, durch Suizid. (4 Nr. 124) 


Einige Namen ehemaliger Häftlinge sind bekannt. Unter ihnen befinden sich auch Frauen, die aufgrund verbotenem Umgangs mit Fremdarbeitern ihre Untersuchungshaft im Nürtinger Gefängnis verbringen mussten. Lassen wir ein paar Häftlinge selbst berichten von den hiesigen Gepflogenheiten in einer Zeit des Unrechts und der allzu schnellen Freiheitsberaubung. Es wird Zeit, dass diesen Menschen ein Platz des Gedenkens eingeräumt wird:


L.S., ein 1886 geborener, verheirateter Nürtinger Schreiner, der von Dezember 1941 bis April 1942, „aus politischen Gründen“, wie er selbst sagte, im Nürtinger Gefängnis in Untersuchungshaft einsaß. Er berichtete im Juli 1945 und im April 1948 vor der Spruchkammer Nürtingen: 

„Während meiner Haft war Küchle sehr hart mit mir. Er verhinderte es z.B. 13 Wochen lang, dass ich einen Brief von meinen Angehörigen bekam oder selbst von der mir von rechts zustehenden Erlaubnis, selbst Briefe zu schreiben, Gebrauch machen konnte. Erst die Ankunft meines Sohnes in Urlaub brachte es mit sich, dass ich einen Brief bekam. ... Einmal z.B. musste ein Pole, der mit dem Zug wegbefördert werden sollte, und aus irgendeinem Grunde nicht mitkam, von ihm (Anm. AS: Küchle) wieder ins Amtsgerichtsgefängnis geholt wurde. Diesen schlug er die ganze Treppe herauf mit dem Farrenschwanz so stark, dass der Gefangene furchtbar schrie und schließlich unter den Schlägen zusammenbrach. ... Eine Französin, die wegen angeblicher Sabotage bei ihrer Arbeit ins Gefängnis eingeliefert worden war, schlug er zum Empfang ins Gesicht und beschimpfte sie aufs gröblichste, was wir beides in der Zelle deutlich hörten. Als die Frau Küchle das Mädchen auf mitgebrachte Dinge untersuchen sollte, lehnte sie dies ab und sagte, das solle Oberregierungs-Inspektor Hoffmann vom Landratsamt tun. Als dieser geholt wurde, schlug sie Küchle mit dem Farrenschwanz kräftig durch, sodass das Mädchen laut schrie und heftig schimpfte. ... Zur Strafe wurde ihr von ... Hoffmann ... andiktiert, dass sie drei Tage auf dem bloßen Holzboden liegen musste und keine Decken bekam.“ (5) - „Küchle war der schlimmste Mensch, den die Welt je gesehen hat ... Die Frau war noch viel schlimmer wie er. Beschweren konnte man sich nicht, dem wäre es dreckig gegangen, der das gemacht hätte.“ (6)


A.G. geborene G., 1922 geboren, aus Nürtingen, berichtete im Juli 1945 vor der Spruchkammer Nürtingen: 

Ich war vom 16.9.1942 an drei bis vier Wochen im hiesigen Amtsgerichtsgefängnis wegen verbotenem Umgang mit einem kriegsgefangenen Franzosen. ... Im Amtsgerichtsgefängnis Nürtingen wurden die Gefangenen von Justizoberwachtmeister Küchle ausnahmslos hart und schlecht behandelt, so als ob alle Schwerverbrecher wären. ...“ (7)


G.J., eine 1925 geborene, ledige Nürtingerin, war von Mai bis Juli 1943 im hiesigen Amtsgerichtsgefängnis zuerst in "Schutzhaft", dann in Untersuchungshaft. Aufgrund Suizid-Gefahr musste sie Handschellen tragen. Sie berichtete im Juli 1945 vor der Spruchkammer Nürtingen: 

Wenn mich meine Mutter besuchen wollte, um mir Wäsche zu bringen, erlaubte er (Anm. AS: Küchle) nie, dass ich sie kurz sah und sprach. Wenn ich etwas Wasser holen musste oder sonst eine Arbeit zu verrichten hatte, stieß er mich auch mit dem Fuß oder gab mir sonst Hundstritte. ... Handschellen trug ich bis zu meinem Wegtransport vom hiesigen Amtsgerichtsgefängnis Tag und Nacht, bei jeder Arbeit, sodass ich mich kaum waschen und gar nicht kämmen konnte. ... Infolge des Gefesseltseins konnte ich mich auch nie entkleiden, sodass ich die ganze Zeit immer angekleidet sein musste. Nur zwei Mal nahm er mir in den zwei Monaten für ein paar Minuten die Handschellen ab, damit ich meine Unterkleidung wechseln konnte. ...“ (8)


P.G., geboren 1900, ein lediger Mechaniker aus Neckarhausen, berichtete im Juli 1946 im Rahmen einer „Anzeigensache gegen den früheren Justizoberwachtmeister und Gefängniswärter Josef Küchle“:

Ich war im Jahr 1943 etwa vier Wochen im Amtsgerichtsgefängnis wegen politischen Äußerungen in Schutzhaft. ... Geschlagen hat mich Küchle wohl nie, jedoch mich damit bedroht. ... Die vom Arzt mir verordnete Medizin hat er mir verweigert und mir gesagt, dass ich keinen Arzt und keine Medizin benötige. ... Als ich mich bei Küchle einmal über die schlechte Behandlung meinerseits beklagte und ihm erklärte, dass ich es nicht mehr aushalte und ich mich erhängen wolle, sagte er zu mir, dass er mir hierzu den Strick hole und eine Zelle nebenan noch von einem Erhängten warm sei. Wenn ich nicht zufrieden sei, würde er meine Liegestatt entziehen, mich auf den Mund schlagen und an die Kette hängen. ...“ (9)


A.W., 1903 in Nürtingen geboren, Schlosser von Beruf, war im April 1943 10 Tage lang im Amtsgerichtsgefängnis wegen "Vergehens gegen das Heimtückegesetz" untergebracht. Auf Befragen sagte er vor der Spruchkammer Nürtingen folgendes aus:

„... In seinen Ausdrücken mir gegenüber war er (Anm. AS: Küchle) vorsichtig, vielleicht weil er mich persönlich näher kannte. Den anderen Häftlingen gegenüber dagegen war er in seinen Ausdrücken oft sehr roh und hart und drohte wohl auch mit Schlägen mit dem Farrenschwanz.

Da es damals noch ziemlich kalt war, mussten die Zellen geheizt werden. Diese Heizung erfolgte aber in so ungenügender Weise, dass uns Häftlingen nichts anderes übrig blieb, als den ganzen Tag über mit aufgeschlagenem Rockkragen und in die Hosentaschen gesteckten Händen in der Zelle umher zu gehen, um das Kältegefühl etwas zu überwinden. Demjenigen, der heizen musste, rief Küchle zu: ,dass du mir aber ja kein Scheit Holz mehr hineinwirfst als erlaubt, sonst kannst du sehen was kommt.’ - Die Verpflegung der Häftlinge war durchaus ungenügend und hätte gewiss mit der zur Verfügung stehenden Zuteilungen wesentlich besser sein können.“ (10)


J.M., geborene M., eine 1912 geborene Nürtingerin, berichtete im Juli 1945 vor der Spruchkammer zur Sache Küchle: 

„Ich war von Mitte September ... bis Mitte Oktober 1944 als Untersuchungsgefangene im hiesigen Amtsgerichtsgefängnis, weil ich einem holländischen Häftling in die Arrestzelle der hiesigen Polizeiwache eine Schachtel Zigaretten zum Fenster hineingereicht hatte. ... Ich half seiner Frau (Anm. AS: hier Küchle’s Frau) in der Küche mit und hatte damit wohl eine gewisse Ausnahmestellung. Dagegen behandelte Küchle die weiblichen Insassen meiner Zelle häufig schlecht. Eine Insassin unserer Zelle, die wegen Lebensmittelkartendiebstahl verhaftet war, sagte, ... dass sie von Küchle mit dem Farrenschwanz ins Gesicht geschlagen worden sei. Jedesmal, wenn er die Zelle betrat, zitterte sie vor Angst. ... Allgemein stelle ich fest, dass Küchle als harter Gefängniswärter bekannt und gefürchtet war. (11)


E.G., 1901 in Nürtingen geboren und Eigentümer einer mechanischen Werkstatt, befand sich von August bis Oktober 1944 aufgrund nazifeindlicher Äußerungen, „einem politischen Delikt“, wie er selbst sagte, zur Schutzhaft im Gefängnis. Er berichtete im Juni 1946 in seiner Aussage gegen Josef Küchle vor der Spruchkammer: 

„ ... Diese Haft war vom Landratsamt Nürtingen angeordnet, weil ich mich u.a. missliebig gegen Adolf Hitler ausgesprochen hatte. ... Küchle habe ich während meiner Haftzeit als einen rohen Menschen und groben rücksichtslosen Schläger kennengelernt, der den Eindruck eines Sadisten machte. ... Ich selbst habe gesehen, wie er einen Ukrainer mit dem Farrenschwanz blutig schlug, sodass dieser infolge einer Kopfwunde sehr viel Blut verlor. Nachdem Küchle seine Misshandlungen an diesem Gefangenen vollzogen hatte, musste ich diesen mit Wasser abwaschen. Nach meiner Ansicht hätte diese von dem Küchle beigebrachte Wunde zum Tode führen können. Der Grund dieser Misshandlung lag nur daran, dass der Ukrainer nicht in die Gefängniszelle wollte, weil er glaubte, er werde in dieser Zelle umgebracht. Dies war im Monat September 1944. ... Insassen des Amtsgerichtsgefängnisses hatten teilweise Heimarbeit zu verrichten. Diese Arbeit sollte auch von einem französischen Häftling ausgeführt werden. Weil diese Arbeit von dem Mann aber nicht so sauber ausgeführt wurde, wie es Küchle wünschte, schlug er ihm mit der Faust ins Gesicht, dass er in der Arrestzelle in eine Ecke zurückfiel. ... Die Verpflegung war sehr mangelhaft und vollkommen unausreichend. Ich selbst habe über 10 Kg an Gewicht verloren während meiner Inhaftierung. Nach meiner Ansicht haben die Gefangenen nicht die ihnen zustehenden Rationen erhalten, denn in anderen Gefängnissen war die Kost zu dieser Zeit wesentlich besser. Teilweise wurde von Küchle den Gefangenen die Kost auch tagelang entzogen....“ (12)


Quellen:

  1. KrAES: D1 Bü 623, Amtsgerichtsgefängnis
  2. StALB: EL 902/8 Bü 8934
  3. Nürtingen 1918 – 1950, Hrsg. R. Tietzen, Verlag Sindlinger- Burchartz, Nürtingen/ Frickenhausen, 2011, ISBN 978-3-928812-58-0
  4. StALB: EL 902/8 Bü 8934
  5. StALB: EL 902/8 Bü 8934, Nr. 21
  6. StALB: EL 902/8 Bü 8934, Nr. 86
  7. StALB: EL 902/8 Bü 8934
  8. StALB: EL 902/8 Bü 8934, Nr. 15
  9. StALB: EL 902/8 Bü 8934, Nr. 42
  10. StALB: EL 903/4 Bü 102, Nr. 236
  11. StALB: EL 902/8 Bü 8934, Nr. 11
  12. StALB: EL 902/8 Bü 8934, Nr. 34


Anne Schaude, April 2015