Schwierigkeiten des Erinnerns...

... am Beispiel Anna Frank und Josef Herrmann

von Manuel Werner, Nürtingen

Fotos oben: Anna Frank um 1938, Vorlage: Hauptstaatsarchiv Stuttgart, EA 99/001 / Bü 236, alle Rechte vorbehalten!, Josef Herrmann um 1930, Foto: privat, alle Rechte vorbehalten!

 

Karl Schmid (Jahrgang 1931) übermittelt Ende der 90er-Jahre eine offizielle Auskunft vom Jahr 1941 zum Schicksal von Anna Frank

 

"Es hieß, sie sei 'weggezogen'. Auf Nachfrage meiner Großeltern hieß es, sie sei zu Verwandten gezogen - das war eine Desinformation von amtlicher Seite!"

 

Während der NS-Diktatur vermag diese Desinformation wenig zu überraschen. Wie aber ist solches nach der Zeit des Nationalsozialismus zu bewerten? Ist Desinformation und Beschönigen gleichzusetzen mit Verschweigen? Wie ist Verschweigen zu bewerten? Wie Desinteresse?

Wie ist es zu bewerten, wenn sich manche Akteure des Nationalsozialismus nach der NS-Zeit der Heimatforschung und Geschichtsschreibung annahmen, mitunter sogar in einer "personelle[n] und" - dies ist das Problematische - "inhaltliche[n] Kontinuität ... bis in die 1950er Jahre"?(1) Wie ist es zu bewerten, wenn ihre Art der Darstellung und ihr Weglassen gefragt war, Zustimmung und Anerkennung und Nachfolge fand? 

Das Schicksal der Nürtingerin Anna Frank, nicht zu verwechseln mit der in Frankfurt am Main geborenen Anne Frank, die über ihr von ihrem Vater veröffentlichtes Tagebuch auch in  Nürtingen weit besser bekannt ist, wurde lange Zeit in Nürtingen ab den 50er-Jahren nicht, und wenn, dann nur fehlerhaft oder fragmentarisch oder gar beschönigend dargestellt. Ebenso gab es bei der Antwort auf die Frage nach dem Schicksal von Josef Herrmann falsche Angaben.

 

1946

Doch es war den Stadtbehörden bekannt, zumindest anfangs.

Im Jahr 1946 sprach das Nürtinger Bürgermeisteramt in einem Schreiben an das Landratsamt noch richtigerweise davon, dass Anna Frank 1941 "mit einem Sammeltransport"(2) nach Haigerloch kam und nicht freiwillig verzogen war

Auch dass Josef Herrmann im Gettolager Theresienstadt ums Leben gekommen war, erfuhr bereits der Nürtinger Bürgermeister Hermann Weilenmann aus einem Brief des Sohnes Ludwig Herrmann vom 11. August 1946.

 

50er-Jahre

Keinen anderen als Hans Schwenkel hielt man für berufen, das Heimatbuch des Kreises Nürtingen herauszugeben. Band I erschien 1950, Band II 1953.(3)

Obwohl oder gerade weil Hans Schwenkel Autoren wie den Nürtinger NS-Landrat Helmuth Maier heranzog, der in der NS-Zeit Informationen über die Juden in Nürtingen und im Landkreis eruieren hatte lassen  und penibel an die Gestapo und den Kreisleiter weiter geleitet hatte, einen damaligen Insider, findet der Leser über deren Schicksal nichts. Der Herausgeber selber hatte z.B. 1933 vom "heiligen Feuer unseres Volkstums" geschrieben und  in einer Veröffentlichung von 1936 Adolf Hitlers "Rassen- und Bevölkerungspolitik des nationalsozialistischen Staates", insbesondere das "Gesetz zur Verminderung des erbkranken Nachwuchses" und die "Rassen- und Bevölkerungspolitik des nationalsozialistischen Staates" als "genial" bezeichnet.

 

60er-Jahre

Liest man unbefangen ein Schreiben des Nach-Nachfolgers von Hermann Weilenmann vom 4. Juni 1962, dann scheint man Anfang der 60er Jahre beim Nürtinger Bürgermeisteramt selbst über den knappen Kenntnisstand des Jahres 1946 nicht mehr verfügt zu haben. Die Archivdirektion Stuttgart bemühte sich im Auftrag des Landtags darum, die Schicksale der jüdischen Bewohner des Landes in den Jahren 1933 bis 1945 aufzuklären. Auf die nochmalige Anfrage der Archivdirektion Stuttgart, die erste war wie bei wenigen anderen Gemeinden von Nürtingen einfach unbeantwortet geblieben, lautete die Antwort der Stadtverwaltung unter Oberbürgermeister Karl Gonser:

 

"Irgendwelche Aufzeichnungen zu den jüdischen Familien sind nicht vorhanden. Die in Frage stehenden Familien Heinrich, Josef Hermann [sic !] sowie Abraham Landauer sind teils 1933, 1936 und 1938 nach Stuttgart bzw. Ravensburg verzogen. Sie leben nun in England und Amerika. Ihre Anschriften sind hier bekannt. Frau Anna Frank, Witwe ist im Oktober 1941 nach Haigerloch verzogen und dort auch gestorben."(4)

 

Als die Archivdirektion Stuttgart im Jahr 1962 ihre landesweite Umfrage nach den jüdischen Opfern der NS-Verfolgung durchführte, übermittelte man seitens der Stadt Nürtingen nur die kargen Daten aus den Melde- und Standesregistern, ohne sich die Mühe zu machen, nähere Auskünfte über die Umstände des Wegzugs von Nürtingen oder gar das weitere Schicksal von Anna Frank und Josef Herrmann in weiteren Unterlagen der Stadt zu suchen.

Die vorformulierte Frage, ob der Umzug freiwillig war oder es sich um eine Zwangseinweisung in die neue Gemeinde im Zuge der von den nationalsozialistischen Dienststellen verfügten Wohnungszusammenlegung von Juden handelte – genau dies traf ja bei Anna Frank zu –, ließ man einfach offen. Auch ohne eigene Nachforschungen wurde am 20. Januar 1967 jedoch der Oberbürgermeister Karl Gonser von Henry Frank, dem Sohn von Anna Frank, in Kenntnis gesetzt:

 

Als Dank dafür [den Patriotismus ihrer Söhne im Ersten Weltkrieg] hat meine Mutter, die fast ihr ganzes Leben in Nürtingen verbrachte, im 1000jährigen Reich mit dem Leben bezahlt, nachdem sie als einzige Jüdin  am Platz zwangsweise nach Haigerloch deportiert wurde und dort infolge eines Unfalls durch die Verweigerung der Universitäts-Klinik in Tübingen sich eine tödliche Infektion zuzog. Ich habe eine Zeugin hier in den USA, die beim Tod meiner Mutter anwesend war. Es gilt auch hier wieder die bekannte Entschuldigung: ‚Wir waren keine Nazis.‘ Aber niemand ist für meine Mutter eingetreten, auch von den sogenannten Nicht-Nazis.“(5) Die erwähnte Zeugin war Selma Thormann, die zur Zeit von Anna Franks Tod Büroangestellte im Krankenhaus der Jüdischen Gemeinde Frankfurt a. M. gewesen war. Sie hatte eine eidesstattliche Versicherung abgegeben.

Hätte sich jemand für das Schicksal von Anna Frank interessiert, so hätte er schon einige Jahre zuvor in den oben angeführten Fragebögen, nachdem sie von der Archivdirektion Stuttgart um Informationen aus anderen Quellen ergänzt worden waren, Anna Frank als ein Opfer der NS-Verfolgung entdecken können.

Zudem erschienen Ergebnisse der landesweiten Befragen der Gemeinden 1966 in Buchform.(6) Offensichtlich wurden dadurch manche aufgeschreckt, allerdings wiederum in eine verdeckende Richtung. So weiß der Verfasser dieses Beitrags von einer anderen Gemeinde in Baden-Württemberg, dass diese beiden Bände im Tresor des Rathauses verschwanden und der Öffentlichkeit und den Bediensteten der Stadt noch Ende der 70er-Jahre entzogen waren. Sie waren allerdings mühelos im Buchhandel erhältlich und gaben Heimatforschern mancherorts eine gute Grundlage.

 

Doch die Nürtinger Heimatgeschichte kümmerte sich jahrzehntelang nicht um das Schicksal der jüdischen Nürtinger in der Zeit des Nationalsozialismus. In den Schulen war sogar die gesamte Zeit des Nationalsozialismus lange kein Thema. Eine damalige Nürtingerin (Jahrgang 1940) erinnert sich im Jahr 2013: "Diese Zeit kam im Geschichtsunterricht nicht vor. Dafür haben wir den Napoleon rauf und runter lernen müssen."(7)

 

1966 antwortete die Stadt Nürtingen auf eine private Anfrage nach dem Schicksal von Anna Frank:

 

"Frau Anna Frank ... ist am 15.4.1941 nach Haigerloch verzogen und am 4.5.1942 in Frankfurt/Main verstorben." (8)

70er-Jahre

Erst Dorothea Mahler wertete 1977/78 im Zuge ihrer Zulassungsarbeit über Nürtingen in den Jahren 1933–39 die baden-württembergische Dokumentation der Judenschicksale für Nürtingen knapp aus. Sie heißt: "Der alltägliche Faschismus. Nürtingen unter der Herrschaft des Nationalsozialismus von 1933 - 1939". Somit gebührt Dorothea Mahler in der Nürtinger Ortsgeschichte das große Verdienst, erstes Licht in das trübe Kapitel der Judenverfolgung und damit auch das Schicksal von Anna Frank gebracht zu haben. Da ihre Arbeit jedoch unveröffentlicht blieb, konnte es passieren, dass zum Beispiel in den zum 50. Jahrestag der „Reichspogromnacht“ (1988) veröffentlichten ortsgeschichtlichen Artikeln Anna Frank als Nürtinger Opfer der Judenverfolgung übersehen wurde. Sie war und ist jedoch im Bestand der Stadtbücherei Nürtingen, dazu im Staatsarchiv Ludwigsburg unter "EL 251 II Bü 106" verzeichnet.

Bei der Einordnung der folgenden lokalen Literaturhinweise sollte man fairerweise mit einbeziehen, dass die Anzahl und der Stand lokaler Veröffentlichungen und deren Zugänglichkeit damals wesentlich anders war als heute. Dazu konnte und kann auf den Aktenbestand im Staatsarchiv nicht schnell zugegriffen werden, was eine rasche Recherche etwa von Journalisten einschränkt.

80er-Jahre

1982 schrieb der damalige Redaktionsleiter der „Nürtinger Zeitung“ in seinem Buch über das Kriegsende in und um Nürtingen:

 

„Die Juden, die in der Stadt wohnten, erkannten rechtzeitig die Zeichen der Zeit und verließen nach und nach das Land. Kein Nürtinger Jude ist in einem Lager umgekommen(9) 

 

1984 besuchte Pinchas Erlanger, ein Enkel von Josef Herrmann, Nürtingen. Er war aus Israel gekommen, um die Orte seiner Jugend und den damaligen Lebensmittelpunkt seines Großvaters und seiner Großmutter zu besuchen. Er schrieb dem Verfasser hierzu in den 90er-Jahren: "Ich war nur ein einziges Mal in Nürtingen, besuchte auch das Haus in der Schafstraße. Die jetzigen Bewohner - eine katholische Jugendorganisation. Die Leute hatten keine Ahnung von den ehemaligen jüdischen Besitzern des Hauses".(10) Seine Schwester, Schoschanna, betrat im Gegensatz zu ihm nie wieder den Boden von Deutschland.

 

1988 erschienen in der alternativen und in der etablierten lokalen Presse Beiträge zur Reichspogromnacht, die auch auf lokale Ereignisse eingehen. Beate Steinhilber schrieb in der Nürtinger STATTzeitung einen Artikel mit dem Titel "Gegen das Vergessen. 9. November 1988, die 'Reichskristallnacht' jährt sich zum 50. Mal".(11) Wolfgang Schöllkopf stellte in einem Artikel in der Nürtinger Zeitung ebenfalls die Thematik "Jüdisches Leben in Nürtingen und Reichskristallnacht" dar.(12)

 

Erst im 1989 vom SPD-Ortsverein Nürtingen herausgegebenen Buch „Das andere Nürtingen“ stellt Valentin Schoplick in seinem Beitrag "Der zweite Weltkrieg" Anna Frank als zweites Nürtinger Opfer wieder eindeutig neben Josef Herrmann, der im Gettolager und KZ Theresienstadt (Terezín), damals im so genannten "Protektorat Böhmen und Mähren" gelegen, ermordet wurde. 

Eugen Wahl schreibt im selben Buch über "Nürtingen im Dritten Reich" auf Seite 135:

 

"Dabei drängt sich einem aber die Frage auf, ob man in Nürtingen nicht mutig genug ist, um sich diesem Kapitel unserer jüngsten Geschichte zu stellen. Wenn man wirklich die Bereitschaft aufbringt, aus der Geschichte zu lernen, dann ist die Gelegenheit hierzu im lokalen Umfeld am besten, denn 'der Schauplatz der eigenen Stadt ist anschaulicher als die Reichskanzlei'".

90er-Jahre

In der 1993 erschienenen „Nürtinger Chronik in Daten und Bildern“ ist Anna Frank als Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung wiederum nicht aufgeführt. Das Schicksal von Josef Herrmann wird zwar knapp dargestellt, aber sein Name als Ferdinand Herrmann angegeben, dessen frühere Adresse Gerberstraße 26 - das so genannte Judenhaus - ebenfalls als die von Josef Herrmann genannt wird.(13) Zum Jahr 1933 ist in dieser Chronik immerhin erwähnt, dass zu jener Zeit "elf jüdische Einwohner" in Nürtingen lebten, die zur "Synagogengemeinde Bad Cannstatt" zählten.(14)

1998 erschien ein Buch zum Schicksal der Juden Nürtingens in der Zeit des Nationalsozialismus. Im Vorwort steht: "Die auffallende Spärlichkeit der Veröffentlichungen und Vorträge befremdete mich auch wegen des offensichtlichen Kontrasts zu den anscheinend beliebteren, oft bearbeiteten und aufgezeigten Epochen und Details der Stadtgeschichte".(15) Dieser Eindruck bezieht sich auf die Situation hier in den späten 80er- und die 90er-Jahren, als anderenorts in Städten vergleichbarer Größe bereits viel mehr in Richtung lokaler Vorgänge getan war. Doch dieses Buch erschien immerhin als Band 1 der Reihe "Veröffentlichungen des Stadtarchivs Nürtingen".

In Haigerloch nicht auf dem Gedenkstein

 

Auch in Haigerloch fehlt Anna Franks Name auf den Gedenksteinen... Sie ist ja nicht in den Osten "deportiert" worden und "fiel" in der Haigerlocher Erinnerung, die ansonsten ausgeprägt ist, "durch die Maschen".

Text: Manuel Werner, Nürtingen, Stand: 20.10.2013, alle Rechte vorbehalten!

Fußnoten und Quellenangaben:

 

(1) Petra Garski-Hoffmann: Die Anfänge der nationalsozialistischen Herrschaft, in: Reinhard Tietzen (Hrsg.): Nürtingen 1918-1950. Nürtingen/Frickenhausen: Sindlinger-Burchartz 2011, S. 165.

(2) Manuel Werner: Juden in Nürtingen in der Zeit des Nationalsozialismus. Nürtingen/Frickenhausen 1998 (hinfort WERNER 1998 abgekürzt), S. 55

(3) Hans Schwenkel: Heimatbuch des Kreises Nürtingen. Würzburg (Verlag Triltsch), Bd. I 1950, Bd. II 1953

(4) WERNER 1998, S. 73.

(5) Zitiert nach WERNER 1998, S. 55.

(6) Paul Sauer: Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern. Denkmale, Geschichte, Schicksale. Kohlhammer, Stuttgart 1966 (Veröffentlichungen der staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg. Band 18).

(7) Auskunft von Helga B. an den Verfasser vom 16. Juli 2013.

(8) Zitiert nach WERNER 1998, S. 140, Anm. 45.

(9) Günter Schmitt: Das Kriegsende in und um Nürtingen. Nürtingen 1982, S. 69

(10) WERNER 1988, S. 74

(11) Nürtinger STATTzeitung Nr. 11/1988, S. 6-8

(12) Nürtinger Zeitung vom 8.11.1988

(13) Günter Schmitt: Nürtinger Chronik in Bildern und Daten. Nürtingen 1993, S. 278

(14) ebda, S. 272.

(15) WERNER 1998, S. 8.

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