"Missliebig": Sofie Blind – Berufsverbot für eine Leichenbesorgerin

Das Grab von Sofie Blind auf dem Alten Friedhof in Nürtingen (Foto: Schaude)
Das Grab von Sofie Blind auf dem Alten Friedhof in Nürtingen (Foto: Schaude)

Schon lange war es in Nürtingen üblich, dass Leichensägerinnen, später auch Leichenbesorgerinnen genannt, die Versorgung von weiblichen Verstorbenen und toten Kleinkindern übernahmen und auch deren Beerdigungen organisierten. Bis in die 1970er Jahre, als sich der Beruf der Bestatterin zu einer selbstständigen Dienstleistung entwickelte, waren die Leichenbesorgerinnen bei der Stadt angestellt (1).

Als Sofie Blind (1900 – 1945, geborene Stark, Ehefrau des Tapezierers und Sattlermeisters A. Blind) im November 1932 mit neun von zwanzig Gemeinderatsstimmen in dieses Amt gewählt wurde, ahnte sie nicht, dass sie diese Tätigkeit nur ein paar Monate würde ausüben dürfen. Sie wusste zwar, dass sie nur als Stellvertreterin der seitherigen Leichenbesorgerin Luise Nestel, die „schon länger krank war“, eingestellt worden war. Mit einer so schnellen Entlassung schien sie aber nicht gerechnet zu haben: Gerade erst hatte sie sich für mehr als 100 Reichsmark (RM) dem Berufsbild entsprechende Kleidung gekauft (1). 

Schon kurz nach der Machtübernahme der NSDAP beantragten die Nürtinger Nationalsozialisten im Mai 1933 im Zuge ihrer „Säuberungsmaßnahmen von politisch missliebigem Personal auf Gemeindeebene“, Sofie Blind „mit sofortiger Wirkung“ zu entlassen und diese Stelle neu zu besetzen (1). Das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums war am 7. April 1933 erlassen worden. Neben der Entlassung von Beamten konnten nun auch „weibliche Beschäftigte durch stellenlose Männer ersetzt werden“. Drei hiesige städtische Angestellte verloren vermutlich aufgrund dieses Gesetzes ihren Arbeitsplatz, eine von ihnen war Sofie Blind (2/152f).

Offiziell warf man ihr die Zugehörigkeit zur Kommunistischen Partei vor – ein fadenscheiniger Grund, den Sofie Blind zu entkräften versuchte: Am 18. Mai 1933 bat sie in einem schriftlichen Gesuch um die Belassung in ihrem Amt. Sie erklärte, dass weder sie, noch ihr Mann oder andere Verwandte „irgendeiner politischen Partei angehören oder angehört haben. Ich bin auch nicht marxistischer Gesinnung.“ Weiter führte sie ihre bisher angefallenen Ausgaben auf: Neben der Anschaffung neuer Kleidung „bin ich zur Versicherung in der allgemeinen Ortskrankenkasse verpflichtet worden, wodurch ich bisher Beiträge in Höhe von 40 RM bezahlen musste. Infolge meiner Entlassung würde mir großer Schaden entstehen.“ (1)

Der damalige Dekan Konrad Mack stellte ihr ein gutes Zeugnis aus: „Die Art und Weise, wie die seitherige Leichenbesorgerin ihren Dienst erfülle, entspricht allen Wünschen.“ Sie führe die schwere Aufgabe ihres Amtes mit liebevoller Sorgfalt gegenüber den Toten aus und habe sich mit gewisser Treue eingelebt. Ihm waren bis jetzt noch keine Klagen zu Ohren gekommen. – In der folgenden Aussprache im Stadtrat kam zum Ausdruck, dass Sofie Blind „eben doch marxistischer Gesinnung sei und sich Äußerungen erlaubt habe, welche sich mit der richtigen Auffassung des Dienstes nicht vereinbaren lassen.“ Das Gesuch, ihre Entlassung rückgängig zu machen, wurde abgelehnt (1).

Am 25. März 1945 wurde Sofie Blind während eines Fliegerangriffs auf das Nürtinger Stadtgebiet getötet. Zwei von vier Jagdflugzeugen, die den Bahnhof angeflogen hatten, schossen im Tiefflug mit Bordwaffen (2/346). Der Baustoffhändler Karl Schweizer, der gerade auf seinem Lagerplatz am Güterbahnhof seine Hühner gefüttert hatte, „wurde vom Fahrrad geschossen und war sofort tot. Die Postzustellerin Sofie Blind, die eben Briefe zum Zug brachte, erlitt so schwere Verletzungen, daß sie auf dem Weg in die Tübinger Universitätsklinik starb“ (3). Zudem wurde ein Junge bei diesem Angriff verletzt.

Der Ehemann von Sofie Blind trat nie in die NSDAP ein. Bis 1939 arbeitete er als selbstständiger Sattlermeister in der Metzingerstraße, ab 1939 war der Kriegsteilnehmer als „U. Feldwebel in der Krankentransport-Abteilung“ und kam bis Februar 1947 in russische Gefangenschaft (4).

Am 10. Juni 1933 wurde Elsa Müller, die Witwe des verstorbenen Theaterdirektors Karl Müller, Sofie Blinds direkte Nachfolgerin und auf unbestimmte Zeit in das Verhältnis eines planmäßigen Beamten zur Leichenbesorgerin für weibliche Verstorbene bestellt (1).

Quellen
1. A. Schaude, Frauen in der Totenehrung, in Tagein – Tagaus, Mädchenbildung und Frauenarbeit in Nürtingen, Frauenspuren 3, Frauengeschichtswerkstatt der VHS Nürtingen, Hrsg P. Garski-Hoffmann, 2009, ISBN 3-922-849-27-X, S. 122ff
2. Nürtingen 1918 – 1950, Hrsg. R. Tietzen, Verlag Sindlinger- Burchartz, Nürtingen/ Frickenhausen, 2011, ISBN 978-3-928812-58-0
3. G. Schmitt, Das Kriegsende in und um Nürtingen, Verlag Senner-Druck Nürtingen, 1995, ISBN 3-922849-03-2, S. 14f
4. StALB EL 902/17 Bü 871, Spruchkammer Verfahrensakten, Meldebogen

Anne Schaude, 2018