Text aus Nürtinger STATTzeitung

Geschichte
     
Eleven Nine und Nürtingen: einige Blitzlichter und Entwicklungen - 18.11.2008

     

(mw) Vor 70 Jahren ereignete sich ab dem 9. November 1938 der Novemberpogrom. Was geschah mit dem Gotteshaus der Nürtinger Juden in Cannstatt? Was mit einem Kritiker der damaligen Ereignisse aus dem NSDAP-Parteikreis, Pfarrer von Jan? Wie erging es den Juden oder als jüdisch Eingestuften hier, zum Beispiel Heinrich Wolff und einer seiner Töchter, oder den Nürtingern Heinrich Herrmann, Josef Herrmann und Anna Frank? Wie verhielt sich ein Nürtinger Stadtrat - Oskar Riegraf - und die NSDAP- und SA-Mitglieder Nürtingens damals und im Folgenden? Einige Geschehnisse und Streiflichter.

Das Gotteshaus der Nürtinger Juden in Cannstatt und der Novemberpogrom
Am 9. November 1938 marschierte der SA-Sturm 1/119 durch die Stuttgarter Innenstadt, sang dabei Kampflieder. Adolf Mauer, Leiter des „Reichspropagandaamtes“ in Stuttgart, lud Vertreter „der Partei“ (NSDAP), der SA und der Sicherheitsorgane und den Direktor der Feuerschutzpolizei in seine Diensträume ins Kronprinzenpalais. In der kommenden Nacht, so seine Anweisung, würden die Synagogen in Flammen aufgehen. Der Stuttgarter Branddirektor erteilte telefonisch Befehl an die Cannstatter Feuerwache. Der Leiter der Feuerwache III sowie zwei Feuerwehrleute und einige als "Zivilisten" verkleidete Nazis brachen am 10. November um 3 Uhr die Synagoge in Cannstatt auf und beschlagnahmten Akten. Der Brandmeister goss Benzin aus und zündete den Dachstuhl an. Die Feuerwehr schützte die benachbarten Gebäude. Ein rauchender Schutthafen blieb von der Synagoge übrig, in die auch die Nürtinger Juden gegangen waren. Die Nazi-Schergen zündelten aber nicht nur: Sie zerstörten Geschäfte, zerschlugen Schaufenster, verwüsteten Mobiliar. Schon am 10. November waren die ersten Busse von Stuttgart in die Konzentrationslager nach Dachau und Welzheim unterwegs. Der Nürtinger Heinrich Herrmann, drei Monate zuvor nach Stuttgart verzogen, saß in einem davon. In der Gestapo-Haft waren er und die anderen im Gestapo-Hauptquartier an die Wand gestellt und verprügelt worden. Im Omnibus ein SS-Mann: "Wer redet, wird erschossen! Wer zum Fenster hinausschaut, wird erschossen!". Heinrich Hermann kam ins KZ Welzheim. Die Stuttgarter Presse kommentierte das Geschehen mit Unterüberschriften wie  „Die Erregung auf dem Siedepunkt“, „Brand auch in Cannstatt“. Am Tag zuvor, am 9. November 1938, hatte man im Nürtinger Tagblatt vom „jüdischen Verbrechen von Paris", von „verbrecherischer pathologischer Veranlagung" lesen können und davon, dass „Deutschland den Juden gegenüber zur letzten Vergeltung und endgültigen Abrechnung" schreiten könnte.
Heinrich Wolff aus Frickenhausen, den die Nazis als Juden einstuften, war zu dieser Zeit bereits im KZ Dachau, seit Frühsommer 1938. 1941 wurde Heinrich Wolff im KZ Buchenwald ermordet. Josef Herrmann, ein jüdischer Viehhändler, der seit fast 80 Jahren in Nürtingen gelebt hatte, ein Bruder des oben erwähnten Heinrich Herrmann, erlebte die Pogromnacht in Ravensburg. 1942 kam Josef Herrmann im Gettolager und KZ Theresienstadt im „Sudetenland“ ums Leben. Dies sind nur einige Beispiele aus dem Parteikreis Nürtingen, zu dem auch beispielsweise Kirchheim unter Teck gehörte.

In Nürtingen: Anna Frank und eine Schülerin aus Frickenhausen
Eine Verwandte von Josef Herrmann, Anna Frank, lebte zur Zeit der Pogromnacht noch in Nürtingen. Da immer wieder als erste Assoziation in diese Richtung vermutet wird: Es handelt sich hierbei nicht um das Mädchen Anne Frank, die Holländerin mit dem berühmten Tagebuch, sondern um eine ältere Nürtinger Dame, die jüdisch war. In den Schaufenstern und an den Türen der größeren Läden, aber auch an Bäckereien hingen in Nürtingen Plakate mit der Aufschrift: "Juden unerwünscht". Anna Frank kam eines Abends unter Tränen zur Inhaberin einer Bäckerei und bat, ihr ein Brot zu verkaufen. Alle Bäckereien, so Anna Frank, wollten ihr nichts mehr geben, obwohl sie dort immer einkaufe. Die Tochter der damaligen Inhaberin der Bäckerei erinnert sich als Zeitzeugin wie die weinende Anna Frank vor der Theke stand: "Die sehe ich heute noch vor mir mit ihren Tränen, ... mit ihren grauen Rollenhaaren! Sie war ganz außer sich, hat immer geheult", so die Zeitzeugin, die damals im jugendlichen Alter war. Die Mutter der Zeitzeugin, die Inhaberin der Bäckerei, habe der Jüdin Anna Frank erwidert, dass sie immer kommen könne, sie hatte Mitleid. Zur Zeitzeugin gewandt - diese war damals wie fast alle im Bund Deutscher Mädel (BDM) organisiert - bemerkte Frau Frank: "Ihr werdet's schon noch sehen, wie es euch ergeht, euch Jungen, was da kommt. Das rächt sich. Ihr müsst das mal büßen." ...
Eine Tochter von Heinrich Wolff war bereits vor dem behördlicherseits erzwungenen Verlassen der Schule zu jener Zeit aus der Nürtinger Oberschule (heute: MPG) gegangen. Sie galt damals als "Halbjüdin". Ihr Kommentar hierzu: „Es war dann nicht mehr auszuhalten“. Ihre Nürtinger Mitschülerinnen und Mitschüler hatten sie immer stärker drangsaliert, „ich bin dann von der Schule weggegangen, weil es einfach nicht mehr möglich war“.

Ein Zeitungsartikel und eine Predigt
Das Nürtinger Tagblatt formulierte zwei Tage vor dem Buß- und Bettag: „Der Jude ist d e r  B a z i l l u s  m i t  M e n s c h e n g e s i c h t , und deshalb ist er der gefährlichste. Mögen in diesen Tagen auch einige Fensterscheiben eingeshlagen und einige Sachwerte vernichtet worden sein, das mag bedauerlich erscheinen. Nicht zu bedauern aber ist, daß die Juden a u s  u n s e r e m  V o l k e  a u s g e t i l g t werden. Wir müssen diese Brutalität aufbringen, denn es geht hier um das Sein oder Nichtsein unseres Volkes und mit dem sogenannten „Taktgefühl der feinen Leute" kann man diesen jüdischen Parasiten nicht beikommen. ... Wir lassen uns von niemandem die Existenz unserer Rasse wegleugnen." Zwei Tage später klagte der Oberlenninger Pfarrer Julius von Jan über die schweren Verbrechen des Novemberpogroms: "Gotteshäuser, die anderen heilig waren, sind ungestraft niedergebrannt worden, das Eigentum der Fremden geraubt oder zerstört, Männer, die unserem deutschen Volk treu gedient haben und ihre Pflicht gewissenhaft erfüllt haben, wurden ins KZ geworfen ..."

Oskar Riegraf – ein Stadtrat aus Nürtingen im Einsatz
Oskar Riegraf, Jahrgang 1911, 1935 aus dem Evangelischen Stift in Tübingen und aus dem Kirchendienst ausgetreten, war einer der Initiatoren und Leiter der „Aktion“ der Nazis des Parteikreises Nürtingen gegen Pfarrer Julius von Jan, der den Novemberpogrom gegen die Juden in einer Predigt kritisiert hatte. Die Nürtinger NSDAP-Kreisleitung unter "Kreisleiter" Eugen Wahler und "Kreisgeschäftsführer" Wilhelm Gruel organisierte, dass 300 bis 500 Nürtinger „Parteimitglieder“ und SA sich in Nürtingen zusammentaten und in mehreren Lastwagen, einem Omnibus, Motorrädern und PKWs nach Oberlenningen gekarrt wurden. Der Nürtinger Ratsherr und HJ-Oberbannführer Oskar Riegraf putschte die Männer jeden Alters vor der Oberlenninger Turnhalle durch eine flammende Rede auf. Auch einige andere taten sich als Anführer hervor. Danach schlugen die Nürtinger den Pfarrer brutal zusammen, bevor er in "Schutzhaft" genommen wurde und vor das Stuttgarter Sondergericht des berüchtigten Herrmann Cuhorst kam, der über 100 Menschen mit Worten wie „Voilà, meine Herren, auf zur Schlachtbank" zum Tode verurteilte. Die Nürtinger NSDAP-Kreisleitung - auch zu diesem Zeitpunkt war Eugen Wahler "Kreisleiter" - betrieb später (ab Mitte 1943) durch verleumderische Schreiben, dass Julius von Jan an der Ostfront umkommen sollte. Diese Papiere begleiteten ihn durch alle Truppenteile. Glücklicherweise überlebte Pfarrer von Jan dennoch.
Oskar Riegraf erschoss übrigens am 21. April 1945 den Meßstettener Lamm-Wirt Martin Stengel bei einem Standgericht während eines Verhörs erbost mit seiner Pistole. Dieser hatte bei vermutetem Einmarsch der Franzosen die weiße Fahne gehisst. Die französischen Panzer waren dann aber abgedreht. Oskar Riegraf befahl ihm unterstellten Mitgliedern des "Freikorps Hitler", auch den Altbürgermeister Friedrich Maier zu erschießen, nachdem dieser erklärt hatte, er wisse nicht, wer die weiße Fahne auf dem Meßstettener Rathaus gehisst habe. Auch Friedrich Maier wurde daraufhin erschossen. Aus dem Hechinger Gefängnis konnte Riegraf in der Nachkriegszeit seltsamerweise entkommen (in der NS-Zeit gelang dies niemandem). Trotz jahrelanger Fahndung schafften es die bundesrepublikanischen Behörden nicht, ihn ausfindig zu machen und zur Verantwortung zu ziehen. Das Verfahren gegen ihn wurde im Mai 1987 eingestellt.

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Heinrich Herrmann musste nach der KZ-Haft wie viele andere sein Heimatland verlassen - einer der Heimatvertriebenen, an die in Nürtingen bei diesem Begriff nicht gedacht wird. Er wohnte mit seiner Frau früher im "Getränke Müller". Anna Frank, Josef Herrmann, Heinrich Wolff und viele andere überlebten die NS-Jahre 1941 und 1942 nicht – die unsäglichen Zustände in Getto und KZ waren die Endstation, die ihnen von den Nazis zugedacht waren. Oskar Riegraf setzte sich - dem Staatsarchiv Ludwigsburg zufolge - nach dem „Dritten Reich“ nach Südamerika ab. Und die Nürtinger NSDAP-Kreisleiter kamen wieder in Amt und Würden. Der oben erwähnte Eugen Wahler wurde wieder Oberlehrer, ein andere wurde Schulleiter, wieder ein anderer Professor.