Marianne E.: Eine als "halbjüdisch" eingestufte Schülerin wird aus der Schule in Nürtingen gemobbt

von Manuel Werner, Nürtingen

Marianne E. geborene Wolff als Mädchen, Tochter eines als "Juden" eingestuften Frickenhäusers, Foto: privat, aus: WERNER 1998
Marianne E. geborene Wolff als Mädchen, Tochter eines als "Juden" eingestuften Frickenhäusers, Foto: privat, aus: WERNER 1998

In dem Schulgebäude, das heute als "Max-Planck-Gymnasium" bezeichnet wird, dem früheren "Realprogymnasium", ging ein Mädchen aus Frickenhausen zur Schule, Helene Marianne E. geborene Wolff, Jahrgang 1924.

Ihr Vater, Heinrich Wolff, (Jahrgang 1886), war seit 1908 in Frickenhausen ansässig. Er war Mitglied im Gemeinderat und im Deutschen Roten Kreuz (DRK). Vom nationalsozialistischen Deutschland wurde er 1933 als "Jude" eingestuft, obwohl er evangelisch war. Die Mutter wurde, nachdem sie anfangs vom Nürtinger Bürgermeister dem Oberamt Nürtingen und somit Landrat und Kreisleiter als "jüdisch" gemeldet wurde, schließlich als "arisch" vermerkt. Die Ehe war nach damaliger NS-Sicht eine so genannte "privilegierte Mischehe", was hier im Landkreis Nürtingen aber wenig nützte.

Seine drei Töchter wurden im Zuge der Nürnberger Rassengesetze als "Halbjüdinnnen" bzw. "Mischlinge 1. Grades" eingestuft und behandelt. Bald waren sie von Nürtingen bis Neuffen als "die Wolff-Töchter" oder "die Wolff-Schwestern" allbekannt, teils bis heute (2013).

 

Der Vater kam zuerst ins Gefängnis, dann ins KZ - eine Urne kam zurück

 

Der Vater wurde nachdem er aus zweijähriger Haft entlassen wurde - vermutlich im Frühsommer 1938 - unmittelbar darauf in das Konzentrationslager Dachau und dann in das Konzentrationslager Buchenwald eingeliefert. Im Besitz seiner Tochter Marianne E. geborene Wolf befinden sich teils mit der Schere zensierte Briefe aus Dachau (16. Juli 1938) und Buchenwald (10. März 1940) sowie früher eine Karte vom 6. März 1941, auf der lediglich mit zittriger Schrift stand "Mir geht es gut". Diese Karte war vermutlich vordatiert und zu dem angegebenen Datum war Heinrich Wolff wohl bereits vergast und verbrannt. Die Familie verlor dadurch auch ihren Ernährer.

Eine Seite in dem Buch "700 Jahre Frickenhausen - Stationen aus der Geschichte und Jubiläumsjahr" stellt Heinrich Wolffs Schicksal knapp dar, nachdem die unten angegebenen Veröffentlichungen von Manuel Werner dreizehn und sechs Jahre zuvor dessen Schicksal und das einer seiner Töchter erstmalig aufgezeigt hatten, hier ein PDF dieser Seite (Größe: 293,97 KB, Verlinkung zur Seite www.frickenhausen.de).

 

Von den Mitschülerinnen schikaniert

 

Bevor jüdische Schüler - nicht aber "Mischlinge 1. Grades" - 1938 generell aus den Schulen ausgewiesen wurden, verließ Marianne E. das Nürtinger Progymnasium, weil sie von ihren Mitschülerinnen auf das schwerste gemobbt wurde. Sie waren im Nürtinger Bund Deutscher Mädel dazu aufgehetzt worden.

 

"Das ist dann so schlimm gewesen, daß die Mitschüler einen, ja, wie kann man das sagen, einen eben psychisch geplagt haben. Und das war dann nicht mehr auszuhalten, ich bin dann von der Schule weggegangen, weil es einfach nicht mehr möglich war."

 

Nach diesen traumatischen Erfahrungen besuchte sie keine andere Schule mehr, half anfangs ihrer Mutter bei der nun notwenig gewordenen Heimarbeit, musste schließlich in einer Metall verarbeitenden Fabrik an ihrem Wohnort als "Hilfsarbeiterin" arbeiten. Der damalige Schulleiter des Realprogymnasiums, Dr. Erwin Rüd, hatte dem Mädchen nach ihrem Austritt angeboten, ihr Englischunterricht wegen einer etwaigen "Auswanderung" zu geben. "Aber das wäre unmöglich gewesen. Wissen Sie, da haben Sie auch nicht mehr lernen können, wenn man so geplagt wird. Da leben Sie immer in Angst...".

 

"Jüdische Mischlinge" wurden behördlicherseits "erst" mit Erlass vom 9.9.1942 von höheren Schulen an Volksschulen zurückverwiesen.

 

Wenn ihr auf der Straße andere Kinder begegneten, wandten diese sich sofort ab und liefen weg. Wie sie wurde auch die übrige Familie geschnitten.

 

Heute

 

Eine Frau aus Nürtingen, die damals eine Rolle bei dieser Diffamierung und Ausgrenzung spielte, geht auch heute noch auf die andere Straßenseite, wenn sie der ihr bekannten Tochter "begegnet". Ob es deren schlechtes Gewissen ist, das sie dazu bewegt? Marianne E. meint, eher nicht....

 

Der Vater und eine Tante werden in Lagern ermordet

 

Um den 4. März 1941 wurde ihr Vater vom KZ Buchenwald weggebracht und wohl in einer der "Vergasungsanstalten" ermordet, was sie aber erst nach der NS-Zeit über ihren Vetter Heinz Max Bleicher (Jahrgang 1923) erfuhr, der hierzu recherchiert hatte und bevor er als "jüdisch versippt" aus der "Wehrmacht" ausgeschlossen wurde Augenzeuge des Massakers an Juden von Beley und Jassy gewesen war.

 

Ende 1941 half sie ihrer Tante, bevor diese aus Stuttgart nach Riga "deportiert" wurde, deren Kleidungs- und Gepäckstücke wie vorgesehen zu markieren und zu beschriften. Doch später erfuhr sie, dass das Gepäck ihrer Tante wie das der anderen "Deportierten" am Bahnhof zurückgeblieben war. Auch kam nie eine Postkarte oder ein Brief. Ihre Tante war von der "Einsatzgruppe A" erschossen worden, wie sie nach der NS-Zeit erfuhr.

 

Ihr ebenfalls als "Halbjuden" eingestuften Vettern, darunter der spätere Verleger Heinz M. Bleicher, wurden Ende 1944 in ein Arbeitslager bei Wolfenbüttel verbracht.

 

Fast ebenfalls erschossen

 

Auch sie hätte wie ihre Schwestern noch kurz vor Kriegsende in der Reiterkaserne in Cannstatt erschossen werden sollen, doch die amerikanische Armee hatte bevor es dazu gekommen war den Kessel um Stuttgart so gut wie geschlossen. Zuvor war das Nürtinger Arbeitsamt bestrebt gewesen, die drei Schwestern gemeinsam in eine Firma zum Arbeiten zu schicken, "darum ging es ja, deshalb haben sie alle in eine Firma stecken wollen, damit sie alle gleich beieinander gehabt hätten". "...Wenn der Tag dann gekommen wäre, daß sie einen abgeholt hätten..." Auch ihr Vetter Heinz M. Bleicher überlebte das Lager bei Wolfenbüttel.

 

Soviel Schlechtigkeit hat man dem Menschen nie zugetraut

 

Sie resümiert: "Soviel Schlechtigkeit hat man dem Menschen nie zugetraut, aber der Mensch ist zu allem fähig - es war also keine schöne Jugend."

 

Vergleichsweise Einordnung der Geschehnisse im Landkreis Nürtingen

 

"Es ist eine traurige Tatsache, dass im Partei- und Landkreis Nürtingen alle jüdischen Schülerinnen und Schüler, auch die als 'halbjüdisch' geltenden Mischlinge 1. Grades', bereits lange vor dem gesetzlichen Schulausschluss die Schulen verlassen hatten. Mitschülerinnen, Mitschüler und manche Lehrer wie auch BDM-Führerinnen und HJ-Führer hatten dafür gesorgt, und das wurde von oben für gut befunden."(1) Zu diesem traurigen Bild passt auch, dass beide in einer so genannten "Mischehe"  lebenden und als "jüdisch" eingestuften Männer des Partei- und Landkreises Nürtingen, Heinrich Wolff und Wilhelm Weißburger, in Gefängnisse verbracht und in Konzentrationslagern umgebracht wurden, beide angeblich "an Lungenentzündung verstorben".(2)

 

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Bemerkung zum Begriff "Halbjuden"

 

"Halbjüdinnen" oder "Viertelsjüdinnen" gibt es nicht, genausowenig wie es "Halbkatholikinnen", "Viertelstschechen", "Halbfriesinnen",  "Halb-Deutschböhmen" oder "Viertelsmuslime" gibt.

 

 

Text: Manuel Werner, Nürtingen, Stand: 3. Juni 2013, alle Rechte vorbehalten!

Zitiervorschlag. Manuel Werner (2013): Marianne E.: Eine als "halbjüdisch" eingestufte Schülerin wird aus der Schule in Nürtingen gemobbt, in: Nürtinger Opfer nationalsozialistischer Verfolgung.
Website der Gedenkinitiative für die Opfer und Leidtragenden des Nationalsozialismus in Nürtingen: http://ns-opfer-nt.jimdo.com, Stand: 3. Juni.2013, abgerufen am: XY.YX.20XY.

Mehr hierzu:

  • Manuel Werner: Juden in Nürtingen in der Zeit des Nationalsozialismus, Nürtingen/Frickenhausen 1998, S. 36- 39 sowie
  • Manuel Werner: Cannstatt - Neuffen - New York. Das Schicksal einer jüdischen Familie in Württemberg. Nürtingen/Frickenhausen 2005, in der Website abgekürzt WERNER 1998 S. 142 und 147f.
  • Manuel Werner: Eleven Nine und Nürtingen: einige Blitzlichter und Entwicklungen - 18.11.2008, in: Nürtinger STATTzeitung, online lesbar.
  • Bürgermeisteramt Frickenhausen (Hrsg.): 700 Jahre Frickenhausen - Stationen aus der Geschichte und Jubiläumsjahr, Nürtingen/Frickenhausen 2011, S. 65f.

Die von Marianne E. stammenden Zitate sind dem  Buch "Juden in Nürtingen in der Zeit des Nationalsozialismus" (WERNER 1998) entnommen. Intensive Gespräche mit der oben thematisierten früheren Nürtinger Schülerin und mit einer ihrer Schwestern wurden darüber ab 1995 geführt, zuletzt 2013, sowie mehrmals Mitte der 90er-Jahre mit Heinz M. Bleicher, Gerlingen, mit ihm auch spezieller Schriftverkehr hierzu, vor allem ein Brief 30.8.1995 an MW enthielt viele Informationen. Die hier aufgeführten Zitate von Marianne E. stammen fast ausschließlich vom 6.9.1995.

(1) Manuel Werner: Cannstatt - Neuffen - New York. Das Schicksal einer jüdischen Familie in Württemberg. Nürtingen/Frickenhausen 2005, in der Website abgekürzt WERNER 2005, S. 142.

(2) Vgl. WERNER 2005, S. 142

 

Hinweis für Schüler: Alle drei Bücher können in der Stadtbücherei Nürtingen entliehen werden, Signaturen und dortiger Standort: "BaWü 438" und "BaWü 428 Neu" (also nicht bei NS-Zeit, Judentum etc., sondern ganz oben, im Lesezimmer gegenüber den Zeitschriften).

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